Die Kurzgeschichte Tír na nÒg entstand für das TEXT FOR ART - Projekt für LITERRA und verbindet Phantastik mit einem zeitgenössischen Thema.
Tír na nÒg
Noch nie war mein Drang nach Freiheit brennender als in diesem Augenblick. Ich glaube nicht an Zeichen, aber vielleicht hat mein Unterbewusstsein diese Erinnerung zum richtigen Zeitpunkt frei gespült. Vielleicht ist mein Verlangen, endlich alles hinter mir zu lassen doch stärker, als meine dumpfe Verzweiflung. Nein, nicht vielleicht.
Heute werde ich aus meinem Gefängnis ausbrechen, bevor mein Mut sinkt und die Bilder aus meinem Traum verblassen. Noch einmal tauche ich in die Vergangenheit ein, um Kraft zu schöpfen.
Ich habe unser Haus verlassen und bin durch den Wald gelaufen, bis hinunter zum See. Vor mir breitet sich das kristallklare Wasser aus. Der Himmel, rot und golden vom schwindenden Licht des Tages, spiegelt sich darin, und die Grenze zwischen oben und unten löst sich auf. Ich knie mich ins duftende Gras und lausche dem Summen und Zwitschern um mich herum.
Noch bin ich zu jung für den Tanz in den Mai. Um meine Enttäuschung darüber zu lindern hat Großmutter mir noch einmal die Geschichten vom kleinen Volk erzählt, das unbemerkt unter uns weilt. Von der Feenkönigin, die heute Abend im maigrünen Kleid mit ihrem Gefolge durch die Wälder reitet, um den Sommer zu begrüßen. Nur selten zeigt sie sich den Menschen. Wer aber das Glück hat sie zu sehen, der kann sich der Prozession anschließen, um Tír na nÒg zu betreten, das Land der ewigen Jugend, wo es weder Krankheit noch Alter gibt. Deswegen sitze ich hier, am Ufer des Sees, und warte.
Katzenjammer
Marion Minks
Mich an diesem Abend zum Essen einzuladen, war sicher die dümmste Idee, die Corinna je gehabt hatte. Dennoch passte es zu ihr, da ihr bescheidener Verstand lediglich von ihrem Mangel an Takt übertroffen wird.
Ich sehe ihr geradewegs in die Augen. Der boshafte Ausdruck, mit dem sie mich schon den ganzen Abend über beobachtet hatte, war gänzlich einem bodenlosen Entsetzen gewichen, so als wollte sie sagen: Wie konnte mir das nur passieren?
Als sie anfängt zu würgen, schließe ich schnell die Badezimmertür und gehe in die Küche hinunter. Dort ziehe ich mit meinem Fuß die Schranktür unter der Spüle auf und entdecke sofort, wonach ich suche. Vorsichtig hole ich mir die original verpackten Gummihandschuhe heraus, reiße die Folie ab, und stecke das knisternde Plastik in meine Hosentasche. Mit rosafarbenem Latex an den Händen räume ich nun meinen Teller und mein Glas vom Tisch, und beginne zu spülen.
Sorgfältig beseitige ich mit dem Spülschwamm alle Spuren, die ich auf dem Geschirr und dem Tisch hinterlassen habe, und denke wehmütig an die Zeit zurück, als Oma Hertha noch in diesem Haus gewohnt hatte.