Die Kurzgeschichte Tír na nÒg entstand für das TEXT FOR ART - Projekt für LITERRA und verbindet Phantastik mit einem zeitgenössischen Thema.
Tír na nÒg
Noch nie war mein Drang nach Freiheit brennender als in diesem Augenblick. Ich glaube nicht an Zeichen, aber vielleicht hat mein Unterbewusstsein diese Erinnerung zum richtigen Zeitpunkt frei gespült. Vielleicht ist mein Verlangen, endlich alles hinter mir zu lassen doch stärker, als meine dumpfe Verzweiflung. Nein, nicht vielleicht.
Heute werde ich aus meinem Gefängnis ausbrechen, bevor mein Mut sinkt und die Bilder aus meinem Traum verblassen. Noch einmal tauche ich in die Vergangenheit ein, um Kraft zu schöpfen.
Ich habe unser Haus verlassen und bin durch den Wald gelaufen, bis hinunter zum See. Vor mir breitet sich das kristallklare Wasser aus. Der Himmel, rot und golden vom schwindenden Licht des Tages, spiegelt sich darin, und die Grenze zwischen oben und unten löst sich auf. Ich knie mich ins duftende Gras und lausche dem Summen und Zwitschern um mich herum.
Noch bin ich zu jung für den Tanz in den Mai. Um meine Enttäuschung darüber zu lindern hat Großmutter mir noch einmal die Geschichten vom kleinen Volk erzählt, das unbemerkt unter uns weilt. Von der Feenkönigin, die heute Abend im maigrünen Kleid mit ihrem Gefolge durch die Wälder reitet, um den Sommer zu begrüßen. Nur selten zeigt sie sich den Menschen. Wer aber das Glück hat sie zu sehen, der kann sich der Prozession anschließen, um Tír na nÒg zu betreten, das Land der ewigen Jugend, wo es weder Krankheit noch Alter gibt. Deswegen sitze ich hier, am Ufer des Sees, und warte.
Die aufziehende Nacht hat die Sonne gerade hinter den Horizont geschoben, als aus der Ferne ein silberhelles Klingen an mein Ohr dringt. Ich wage kaum zu atmen. Da sehe ich sie: Leuchtend weiße Schatten streifen in der Nähe des Ufers zwischen den Bäumen entlang, nur wenige Meter von mir entfernt. Sind es wirklich Feen auf ihren Schimmeln, die dort lautlos an mir vorbeiziehen? So sehr ich mich auch anstrenge, ich vermag ihre Umrisse in dem Dunst aus weißem Licht kaum zu erkennen. Erst am Ende des Zuges glaube ich einige Gestalten auszumachen. Sie lachen und winken mir zu. Soll ich ihnen folgen? Ich zögere, und noch ehe ich mich entscheiden kann, ist der Zauber auch schon vorbei.
Ein kurzes Klopfen an der Tür und geschäftige Schritte katapultieren mich in meinen Sessel zurück, in dem ich geträumt habe. Fünfzigeinhalb Jahre liegen zwischen dem See und diesem Raum, in dem ich seit vier Jahren gefangen bin.
Vanessa, die junge Pflegeassistentin, stellt mein Frühstück zur Seite. Dann hievt sie mich auf mein Bett. Es ist Zeit für die morgendliche Körperhygiene. Während sie mir eine frische Windel anlegt, schließe ich die Augen. Sie lässt sich ihren Ekel nicht anmerken. Im Gegenzug lasse ich sie nicht spüren, wie sehr ich den Anblick ihres jungen Gesichtes hasse, das mich immer nur an meine eigene Gebrechlichkeit erinnert.
Ein Schlaganfall hat mich halbseitig gelähmt und mir die Sprache genommen. Da ich keine Angehörigen habe, werde ich den Rest meines Lebens allein in diesem Pflegeheim verbringen. Doch ich bin erst zweiundsechzig und der Tod lässt auf sich warten.
Vanessa setzt mich wieder in meinen Sessel. Bevor sie sich von mir verabschiedet erzählt sie mir noch, dass die Konfirmanden der Kirchengemeinde einen Gottesdienst anlässlich des Reformationstages für uns vorbereiten.
Die meisten meiner Mitbewohner freuen sich über den wöchentlichen Besuch der Konfirmanden. Sie lassen sich aus der Zeitung vorlesen oder langweilen die Jugendlichen mit ihren Geschichten aus längst vergangenen Zeiten von fast vergessenen Menschen. Ich hingegen bin ich es Leid, für unverlangtes Mitgefühl dankbar sein zu müssen und es ist mir unerträglich, wenn fremde Hände in meiner Vergangenheit, meinen Fotos, Briefen und Schallplatten wühlen und mir in wohlmeinender Absicht vor Augen halten, was ich verloren habe.
Kurz vor dem Mittagessen kommt der Arzt vorbei. Wüsste er meinen Blick zu deuten, dann wäre ihm klar, was ich denke.
Ein einziges Mal nur habe ich ihn um Hilfe gebeten. Es hat mich viel Mühe gekostet, meinen Willen lesbar zu Papier zu bringen. Hilfloses Entsetzen stand ihm ins Gesicht geschrieben, als er den Brief zerrissen hat.
Der Arzt tut seine Pflicht und hält sich an Recht und Gesetz. Ihm deswegen Kaltherzigkeit vorzuwerfen wäre ungerecht. Immerhin hat er mir einen Seelsorger geschickt. Ob um meiner Seele oder seiner eigenen willen ist mir nach wie vor ein Rätsel.
Der Pastor ist ein netter Mann, der sich viel Mühe gibt, um mir Trost zu spenden. Immer wieder erklärt er mir, das Leben sei eine Gnade und ein Geschenk Gottes, das man dankbar annehmen müsse. Gerne würde ich ihn fragen, wo mein Recht bleibt, ein unerwünschtes Geschenk abzulehnen. Und ob es nicht gnädiger gewesen wäre, hätte man mich nach meinem Schlaganfall entweder viel früher oder gar nicht gefunden. Doch dazu fehlen mir die Worte.
Die Wahrheit ist, ich habe weniger als ein halbes Leben, denn ich habe alles verloren, was mir je etwas bedeutet hat: Meine Selbständigkeit, meine Sprache und meine Liebe.
Heute esse und trinke ich bewusst, denn ich weiß, ich werde Energie brauchen. Danach ruhe ich mich noch einmal aus und denke an Kai. Mich an sein Gesicht zu erinnern, an seine Stimme, an seine Berührungen, gibt mir Kraft.
Nach dem Kaffee werden alle Bewohner der Station, die dies wünschen, zum Gottesdienst ins Foyer begleitet. Ich lasse mir von Petra, der Pflegerin im Spätdienst, in eine warme Strickjacke helfen und bedeute ihr, dass ich nicht den Rollstuhl benutzen möchte. Petra freut sich über die Rückkehr meines Lebensmutes und hilft mir dabei, den Rollator aus meinem Zimmer zu schieben.
Die Physiotherapie zeigt Wirkung. Nach wenigen Metern gelingt es mir, den Rollator mit einer Hand sicher zu steuern. Ich bedeute Petra, dass ich im hinteren Teil des Foyers bleiben möchte. Sie setzt mich auf einen Stuhl nahe des Haupteingangs und verschwindet. Die Stuhlreihen füllen sich mit Alten und Dementen. Petra schiebt einen jungen Mann an mir vorbei, der an seinen Rollstuhl gegurtet ins Leere starrt. Er ist vom Hals abwärts gelähmt.
Eine kleine Menschentraube sammelt sich vor dem Eingang. Das ist die Gelegenheit, auf die ich gewartet habe. Ich quäle mich hoch und klammere mich an meinen Rollator. Während sie das Gebäude betreten, schlurfe ich unbemerkt hinaus.
Der Weg bis zur Bushaltestelle ist nicht lang, für jemanden, der ein gelähmtes Bein hinter sich herschleift, jedoch beschwerlich. Als ich mein Ziel erreicht habe, zittere ich vor Anstrengung und Kälte. Ich wage es nicht, mich umzudrehen aus Angst, jemand könnte mich bemerken und mich wieder zurückholen.
Endlich fährt der Bus vor. Eine junge Frau hilft mir beim Einsteigen. Der Busfahrer wirft nur einen flüchtigen Blick auf meinen Behindertenausweis, den ich hochhalte, und setzt seinen Weg fort. Mit jedem Meter, der sich zwischen mich und das Pflegeheim schiebt, fühle ich mich freier, bis mich ein fast vergessenes Glücksgefühl durchströmt.
Der Himmel färbt sich dunkelblau, Kürbisgesichter funkeln vor den Haustüren, die der Bus passiert, und Kinder hüpfen als Hexen und Geister verkleidet durch die Straßen. Eine kleine Hexe steigt mit ihrer Mutter ein. Halloween, kichert das Mädchen und betrachtet neugierig mein schiefes Gesicht. Ich schenke ihr ein halbes Lächeln. Vielleicht hält sie mein hängendes Auge für eine Verkleidung.
An der Station Waldfriedhof steige ich aus, die Mutter des kleinen Mädchens hilft mir dabei. Nebelfetzen schweben hoch über mir, als ich den Friedhof betrete.
Der Weg zu Kais Grab ist weit. Vier Jahre ist es her, dass ich zuletzt dort war. Es war an unserem Hochzeitstag, und ich schmückte sein Grab mit Blumen. Als mir übel und schwindelig wurde, habe ich versucht, nicht an seine letzten Tage im Krankenhaus zu denken, als der Tumor sich in seinen Lungen breit gemacht und das Leben aus ihm herausgepresst hat, und auch nicht an unsere gemeinsamen Pläne, die wir noch hatten. Dunkelheit hüllte mich ein, und als ich wieder zu mir kam, lag ich im Krankenhaus, gelähmt und stumm.
In Gedanken bei Kai will ich mir die Tränen aus dem Gesicht wischen. Dabei vergesse ich, dass ich meine rechte Hand brauche, um mich auf den Rollator zu stützen. Mein gelähmtes Bein gibt nach und ich stürze in den flachen Graben neben dem Weg, den Gehwagen wie einen Alp auf meiner Brust. Feuchte Kälte kriecht mir in die Kleider und mein Rücken schmerzt, so dass ich kaum atmen kann. Da höre ich Schritte, schnell und rhythmisch. Ich jedoch gebe keinen Laut von mir. Mit zusammengepressten Zähnen sehe ich dem Jogger zu, der auf sein Pulsmessgerät blickend an mir vorbei läuft.
Wie ein bleiches Tuch legt sich der Nebel auf mich. Kein Geräusch durchdringt die Grabesstille, während ich hier frierend in die Finsternis starre. Heute bin ich bereit, der Feenkönigin zu folgen.
Minuten, Stunden vergehen und die Schmerzen im Rücken werden immer größer. Wo bleibt sie nur? Will sie mich narren? Oder wird sie mich in der Stunde größter Not im Stich lassen?
Alles, was ich wollte, war schmerzlos und in Würde mit ihr zu gehen. Statt dessen liege ich hier, verlassener, als ich es je war. Angst spinnt mein Herz in ein klebriges Netz und ich beginne, hemmungslos zu weinen. Die Totenstille verschluckt mein Schluchzen doch mein Körper bebt, als würde der Boden von donnernden Hufschlägen erschüttert.
Plötzlich spüre ich etwas Lebendiges, Summendes, Klingendes ganz in meiner Nähe. Ist es nur mein Blut, das mir durch die Ohren rauscht?
Nun höre ich es ganz deutlich, jemand ruft meinen Namen! Der vertraute Klang der Stimme durchflutet mich wie Sonnenlicht. Ich versuche, den Tränenschleier wegzublinzeln.
„Kai? Bist du es wirklich?“
Da teilt sich der Nebel und gibt den Blick auf meinen Liebsten frei. Die Erde scheint unter mir wegzukippen, als ich aufspringe und in seine Arme fliege. Sein Haar ist voller, als ich es in Erinnerung habe, wie Seide gleitet es durch meine Finger.
„Oh, Kai, ich habe dich so vermisst!“
Lächelnd nimmt er mein Gesicht in seine Hände. „Ich habe auf dich gewartet“, flüstert er und küsst mich.
„Jetzt wird uns nichts mehr trennen. Nie wieder.“
Ich lege meine Hand in seine, so wie ich es immer getan habe.
„Dann lass uns gehen.“ Kai deutet auf die Feenkönigin, die uns in ihrem immergrünen Kleid vorausgeht, der aufgehenden Sonne entgegen.